Ist Chicorée das aufwändigste Gemüse schlechthin?
Die schlanken, weissen Chicorée-Zapfen mit den gelben Spitzen faszinieren uns. Sie sind frisch, knackig und das ganze Jahr über saisonal erhältlich. Besonders im Winter begrüssen wir die Zapfen als frische Abwechslung zum Lagergemüse. Chicorée ist, wie alle Zichoriengewächse, bitter.
Chicorée-Zapfen wachsen nicht auf dem Feld, zumindest nicht gänzlich. Wir besuchen den Bio Wäberhof im Seeland um zu sehen, wie Chicorée angebaut wird. Anne ist gelernte Gemüsegärtnerin und spricht beim Chicorée von Brüsseler – wie sich das zwischen Bern und Biel gehört. Das Gemüse ist eine sehr aufwändige Kultur.
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Der Anbau ist extensiv und es braucht einiges an Infrastruktur, wie Kühlkammer und Treiberei um die Chicorée-Zapfen zu produzieren. Nach dieser Reportage wissen wir, weshalb der Chicorée aus Schweizer Anbau “so viel” kostet.
Nicht jeder Betrieb kann es sich leisten Brüsseler anzubauen.
Bio Wäberhof
Der Chicorée Anbau auf dem Feld
Der Wäberhof bezieht die Samen von einem auf Chicorée spezialisierten Unternehmen. Die Samen werden im Frühling ins Freiland gesäät. Der Chicorée steht dort ganze fünf Monate lang. In dieser Zeit wird zuerst maschinell und dann von Hand gejätet und eine Düngung aus Graspellets ausgebracht. Es ist eine Herausforderung, den richtigen Boden für die Pflanzen zu finden. Während die Wurzeln in verschiedenen Bodentypen gedeihen, muss vor allem der Wasserhaushalt stimmen. Das Ziel ist, dass die Wurzeln möglichst in einem Stück tief in den Boden wachsen. Ist es zu trocken, gibt es viele kleine Seitenwurzeln. Zu nasse Böden erschweren aber die Ernte, weil dann die Erde zu stark an den Wurzeln klebt. Sowieso: Nasse Felder möchten die Gemüsegärtner*innen möglichst nicht mit dem Traktor befahren. „Wir wollen unsere Böden nicht kaputt machen.“
Während die Chicoréepflanzen auf dem Feld stehen, kann nichts geerntet werden. Das heisst, Chicorée ist eine extensive Kultur. Sie belegt den fruchtbaren Boden, ohne das mehrere Kulturen im selben Jahr gesetzt und geerntet werden können. Die wachsenden Blätter möchte zu diesem Zeitpunkt auch niemand essen: Durch das Sonnenlicht ist das Gemüse extrem faserig und bitter.
Ein imitierter Winterschlaf
Im Oktober verrät der Querschnitt einer Wurzel, ob diese erntebereit sind. Ist es soweit, werden die Wurzeln ausgegraben und in “Pallox” eingelagert. Dies sind mit Plastik ausgeschlagene Holzkisten, die dann in einen Kühlraum kommen.
Während mindestens zwei Wochen lagern die Wurzeln bei Temperaturen um den Nullpunkt. Die Kälteperiode im Kühlraum gaukelt den Pflanzen vor, dass nun der Winter da sei. So treiben sie später verlässlich wieder aus.
Durch die Lagerung im Kühlraum gibt es Chicorée auch (fast) ganzjährig. Wenn die Kultur gesund war, lassen sich die Wurzeln nämlich lange lagern. So können sie zu einem ausgewählten Zeitpunkt zu Chicorée-Zapfen werden.
Von der Wurzel zum Zapfen
Die Wurzeln werden aus dem Kühlraum auf den Hof transportiert. Dort rüstet das Team um Anne die Wurzeln. Alle Wurzeln werden auf ein Laufband gegeben. Zu Kleine, zu Verzweigte oder Faule werden aussortiert und kommen in den Kompost. Dort verrotten sie über die nächsten Monate und werden wieder zu wertvollem Humus.
Die “guten” Wurzeln werden auf die richtige Grösse zugeschnitten und nebeneinander in einer Kiste aufgestellt. Dabei wird darauf geachtet, dass alle möglichst gleich hoch sind. In die untere Hälfte der Kisten kommt später Wasser. Sind die Wurzeln zu klein, gehen sie unter und faulen. Sind sie zu gross, haben sie in den Regalen nicht genügend Platz zum Wachsen.
Dann kommen die Wurzeln in die Treiberei. Während den nächsten Tagen stehen die Wurzeln dort aufrecht im Dunkeln und beginnen auszutreiben.
Die Treiberei ist ein dunkler, feuchter und warmer Ort. In dem kleinen Raum ist im Gegensatz zu draussen angenehm warm – aber auch ziemlich laut. Der Lüftung gibt, was sie kann.
Im Lichtkegel der Taschenlampe präsentieren sich uns die Regale voller Wurzeln in den unterschiedlichsten Wachstumsstadien. Was wir sehen ist verblüffend: Chicorée-Zapfen in allen Grössen und Formen! Dazwischen die Zapfen, wie wir sie aus dem Laden kennen: Ebenmässige äussere Blätter und eine spitz zulaufende Form.
Damit die gleichförmigen Chicorée-Zapfen entstehen, ist ein spezifisches Verhältnis von Temperatur und Luftfeuchtigkeit nötig. Das klappt nicht immer.
Das Licht bleibt aus, damit die Zapfen keine Photosynthese bilden können. Wird das Deckenlicht eingeschaltet ertönt gleichzeitig ein lautes Warnsignal: So lange, bis das Licht wieder ausgeschaltet wird.
Nur die Schönsten schaffens ins Körbchen
Nach einigen Tagen werden die Zapfen geerntet. Dazu werden die Blätter von den Wurzeln abgeschnitten und die äusseren Blätter solange entfernt, bis der Chicorée perfekt ist.
Das bedeutet in diesem Fall: Kein Makel an den Blättern, eine klare und spitze Form sowie eine gewisse Grösse. Uns wird schwer ums Herz, als wir sehen, wie viel die Zapfen beim Rüsten lassen müssen. “Es ist nur ein ästhetisches Problem” erklärt uns Anne. Die kleinen, hohen und schrägen Zapfen werden auf dem Hof zum Zmittag verkocht. Oder landen im Kompost.
Und das, obwohl sie genau gleich schmecken.
Doch auf dem Wäberhof wissen sie, was sie tun: Am Ende werden nur die schönsten Chicorée-Zapfen gekauft.
Erschwerend kommt hinzu, dass der Vertrieb und Verkauf rasch gehen muss. In zwei, drei Tagen sollte der Chicorée auf dem Teller sein. Denn durch die Wärme und vor allem das Licht oxidieren die Blätter und werden braun. Auch das wieder: ein ästhetisches Problem. Am Geschmack verändert sich nämlich soweit nichts. Um die Oxidation zu verlangsamen werden die Zapfen dunkel verpackt.
Urkraut zu Besuch auf dem Bio Wäberhof
Chicorée Zuhause aufbewahren
Sobald wir also Chicorée kaufen sollten wir ihn Zuhause direkt in den Kühlschrank legen. Um die Haltbarkeit zu verlängern mag der Chicorée es möglichst trocken. Und wenn die äusseren Blätter sich zu verfärben beginnen: Du kannst sie trotzdem essen. Oder auch entfernen, denn das Innere ist nach wie vor mehr als geeignet zum Verzehr.
Weg vom Schönheitsideal bitte!
Ein halbes Jahr Wachstum auf dem Feld, die Lagerung im Kühlhaus, der Aufenthalt in der Treiberei und schliesslich: Jede Wurzel bringt nur einen Chicorée-Zapfen hervor. Danach ist die Wurzel erschöpft.
Wenn dieser Chicorée nicht dem Idealbild entspricht, wird monatelange Arbeit und natürliche Ressourcen weggeworfen. Wo bleibt da die Wertschätzung?
Wir plädieren, dass wir unsere Schönheitstandards für Gemüse fallen lassen.